Halbgeschwister als Störenfriede?

Windach – Das Baby ist da! Vater und Mutter schwelgen im Glück. Nur Papas Teenager-Kinder aus erster Ehe reagieren zurückhaltend bis kratzbürstig. Dabei ist der Nachzügler doch so niedlich. Könnte man da von den älteren Kindern nicht etwas mehr Begeisterung erwarten?

«Das ist eine Situation, die sehr oft zu Konflikten führt und in der sich viele Eltern hilflos fühlen können», sagt Familientherapeutin Maria Wiprich aus dem oberbayerischen Windach, die unter anderem als Coach für Patchworkfamilien tätig ist. Dass sich die älteren Kinder zurückziehen oder mit Vorwürfen reagieren, sei – vor allem angesichts des eigenen neuen Familienglücks – manchmal schwer auszuhalten. Es habe aber einen ganz nachvollziehbaren Grund: «Sie sind in Sorge um die Erfüllung ihrer Bedürfnisse», sagt Wiprich.

Wird mein Vater noch für mich da sein? Gibt er mir die Sicherheit, versorgt zu sein? Respektiert er mich? Gehöre ich zu dieser Familie überhaupt noch dazu? Erster und wichtigster Schritt sei es deshalb, herauszufinden, um welche Bedürfnisse und Ängste es konkret geht, und diese anzuerkennen. Etwa so: «Ja, ich habe den Eindruck, dass es Dir gerade gar nicht gut geht», sagt die Familientherapeutin.

Gefühle zwischen Liebe und Wut

Oft können die Kinder gar nicht so genau benennen, was sie umtreibt und was sie so wütend macht: «Viele haben sehr ambivalente Gefühle: Sie lieben ihren Vater und brauchen ihn, sind aber zugleich wütend, dass er die Familie verlassen hat», beobachtet Katharina Grünewald. Auch die Diplom-Psychologin aus Köln berät Patchworkfamilien.

Besonders nach konfliktreichen Trennungen sehen sich Väter, die eine neue Familie gegründet haben, Vorwürfen ausgesetzt, so Grünewalds Erfahrung. «Sie werden oft von der Ex-Partnerin und den Kindern für die familiäre Situation verantwortlich gemacht.» Wenn die neue Familie dann durch ein Baby komplettiert werde, hinterlasse das bei den älteren Kindern den Eindruck: «Erst hat er seine Frau verlassen und jetzt hat er auch uns ausgetauscht.»

Viele Väter reagierten darauf mit einem schlechten Gewissen, sagt Grünewald. Sie erfüllen ihren Kindern möglichst viele Wünsche, um die Beziehung zu ihnen zu retten – was wiederum Konflikte mit der neuen Partnerin nach sich zieht.

Denn auch sie wünscht sich die Loyalität ihres Partners, besonders wenn sie sich von dessen Kindern abgelehnt fühlt: «Sie und das neue Kind werden oft zur Zielscheibe der Wut, stellvertretend für die Enttäuschung über den Vater.» Hinzu kommt: Aus Kindessicht ist sie es, die mit dem Baby die Trennung unwiderruflich macht.

Väter sollten jederzeit erreichbar bleiben

Gibt es einen Ausweg aus diesen komplexen Herausforderungen? «Ganz entscheidend ist es, gegenüber den Kindern in der Beziehungsverantwortung zu bleiben, unabhängig davon, ob sie die Situation gut finden oder nicht», sagt Familientherapeutin Maria Wiprich: «Du bist mir wichtig, ich werde nicht weggehen von dir» – diese Haltung müsse zum Ausdruck kommen.

Ein Gefühl der Sicherheit gibt schon die Tatsache, dass der Vater zuverlässig erreichbar bleibt, Kontakt anbietet und Verabredungen einhält – auch dann, wenn ihm schlaflose Babynächte in den Knochen stecken.

Was in der Theorie einleuchtend klingt, kann in der Praxis eine ziemliche Herausforderung sein: Es schmerzt, wenn Angebote für gemeinsame Unternehmungen brüsk zurückgewiesen werden, wenn der Teenager das Gespräch verweigert und dem Vater die Tür vor der Nase zuschlägt. Und dann? Es trotzdem immer wieder versuchen? Schuldzuweisungen ans Kind seien tabu, aber «Eltern müssen auch nicht zu Superhelden mutieren», sagt Wiprich.

Patchworkfamilien setzten sich oft unter Druck, getrieben vom Wunsch nach funktionierendem Miteinander. «Beharrlich Beziehung anzubieten, ist wichtig. Und es ist hilfreich, andere Menschen um Unterstützung zu bitten», so Wiprich. Das können Personen sein, die gute Absichten in Bezug auf das Gelingen der neuen Konstellation haben: Verwandte, Freunde, weitere Bezugspersonen der Kinder, vielleicht therapeutische Hilfe.

Niedliches Baby wird alles richten? Trugschluss!

Wie gut alle Beteiligten mit der Situation umgehen können, hängt nach Angaben des Geschwisterforschers Hartmut Kasten stark davon ab, wie gefestigt die neuen Familienkonstellationen sind. Ist die Trennung frisch und sind alle Beteiligten noch auf der Suche nach ihrer Rolle? Oder hatten alle Beteiligten schon ein paar Jahre, um sich an die neuen Strukturen zu gewöhnen?

Die Hoffnung, dass ein neues niedliches Baby alles schon richten werde, sei ein Trugschluss, betont der Entwicklungspsychologe und Pädagoge: «Ein gemeinsames Kind fördert nicht automatisch den Integrationsprozess und den Zusammenhalt der Familienmitglieder.»

Wie eng die Beziehung zwischen den Halbgeschwistern werde, hänge unter anderem vom Altersabstand ab: «Älteren Kindern gelingt es oft nicht, eine emotionale Brücke zum kleinen Halbgeschwister aufzubauen.» Während die «neue» Familie sich ihr Nest baue, seien die Jugendlichen damit beschäftigt, sich abzunabeln – auch das kann zu Konflikten führen.

Rivalen um Liebe und Aufmerksamkeit

Sehr feine Antennen haben Kinder und Jugendliche für Ungleichbehandlung. Sie rivalisieren um die Liebe, die Aufmerksamkeit und die Zuwendung der Eltern – das gilt für alle Familien, kann aber in der Patchwork-Situation mit Stief- und Halbgeschwistern noch einmal eine besondere Herausforderung darstellen.

«Kinder spüren sehr genau, wenn sie benachteiligt werden», betont Kasten. Im Umkehrschluss heißt das aber auch: Wenn ein Kind sich fair und gerecht behandelt fühlt und sich trotz der Trennung der Eltern der Bindung zum Vater sicher ist, dann gelingt es umso leichter, mit der Situation umzugehen und eine Beziehung zum kleinen Bruder oder zur kleinen Schwester aufzubauen.

Und mit Kindern, die ihre Pubertät schon einige Jahre hinter sich gelassen haben, erlebe man womöglich eine ganz neue und unerwartete Nähe, sagt Patchwork-Beraterin Katharina Grünewald – weil sie nämlich vielleicht selbst gerade eine Familie gründen und beide Generationen sich bei schlaflosen Nächten und Baby-Bauchweh gegenseitig mit Rat und Tat beistehen können.


(dpa/tmn)

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