Von 100 auf 0: Wenn Ruheständler in ein Loch fallen

Berlin/Köln (dpa/tmn) – «Was machst du hier?» – «Ich wohne hier.» – «Aber doch nicht um diese Zeit.» Diese Szene aus Loriots «Pappa ante Portas» ist legendär – was wie so oft bei Vicco von Bülow daran liegt, dass sie so wahr ist.

Klar: Nicht jeder Berufstätige wird wie Heinrich Lohse verfrüht aufs Altenteil befördert – meist steht der letzte Arbeitstag lange vorher fest. Trotzdem stellt sich dann oft die Frage: Und jetzt?

Für manche ist diese Frage der blanke Horror, für andere eine große Erleichterung. «Die Frage ist, wie man im Ruhestand ankommt – ist man erschöpft oder könnte man noch weitermachen?», sagt Psychologin Ursula Staudinger, Leiterin des Columbia Aging Center an der Columbia University in New York. Denn unter Abschiedsschmerz leidet vermutlich nur, wer die Arbeit genossen hat.

Oft wird Menschen erst jenseits der 65 und nach einiger Zeit ohne Arbeit klar, wie wichtig ihr Job eigentlich war. «Arbeit gibt uns Struktur, sie gibt uns Sichtbarkeit, Verpflichtungen, aber im Idealfall eben auch Sinn», sagt Staudinger. Fällt all das plötzlich weg, hinterlässt es zunächst ein Loch. Berufstätige sollten daher nicht gleich aus der 40-Stunden-Woche in den Ruhestand wechseln, sondern lieber schrittweise aussteigen – wenn der Arbeitgeber mitspielt.

Klappt das nicht, muss der Wechsel nicht gleich misslingen. «Die meisten, die in den Ruhestand gehen, bekommen den Übergang meiner Erfahrung nach sehr gut hin», sagt Prof. Ursula Müller-Werdan, Ärztliche Leiterin der Klinik für Geriatrie und Altersmedizin an der Berliner Charité und des Evangelischen Geriatriezentrums Berlin. Es gibt aber eine Voraussetzung: «Wer sich schon einen Plan für den dritten Lebensabschnitt zurechtgelegt hat, kommt häufig besser zurecht.»

Staudinger empfiehlt Ruheständlern, nicht nur den Weg des geringsten Widerstands zu gehen – sich also nicht nur in den eigenen Garten oder zur Familie zurückzuziehen. «Ich würde dazu raten, sich auch neue Kontakte und neue Situationen zu suchen.»

Das kann zu Beginn ruckeln: Im Ehrenamt muss man vieles erst neu lernen, neue Freunde sind nicht leicht zu finden, neue Aufgaben können in Alltagsstress ausarten. Das muss aber gar nicht schlecht sein: «Nicht jeder Stress ist gesundheitsschädlich», sagt Müller-Werdan. Es gebe aber sogenannte negative Stressoren, soziale Isolation zum Beispiel, die das Krankheitsrisiko deutlich erhöhen. «Vereinsamung ist ein negativer Stress, genau wie das Gefühl, nichts mehr vor sich zu haben.»

Gelingt der Übergang in den Ruhestand nicht, kann das verschiedene negative Folgen haben, wie Staudinger erklärt: von einem Verlust der geistigen Leistungsfähigkeit – weil der Verstand nicht mehr regelmäßig gefordert ist – über Depressionen wegen der neuen Leere im Leben bis hin zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Diabetes – wegen ungesunder Ernährung oder Bewegungsmangel.

Und noch eine Gefahr droht: Eine Beziehungskrise – wie in «Pappa ante Portas». Dass es zu diesem Thema so viele Komödien und Witze gibt, ist kein Zufall, sagt Familientherapeut Björn Enno Hermans. «Gerade der Eintritt in die Rente wird oft humorvoll verarbeitet, mit Bemerkungen wie «Wie soll das denn werden, wenn der den ganzen Tag zu Hause ist?»», sagt der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie. «Dahinter stehen aber echte Sorgen, die auch berechtigt sind.»

Denn Paare, die sich früher nur abends und am Wochenende gesehen haben, verbringen jetzt womöglich jeden Tag miteinander. Die Rente sei ein Anlass, ganz neue Muster zu etablieren. «Die Rollen werden insgesamt neu gemischt – und in einer Partnerschaft sollte es ohnehin immer gleichberechtigt zugehen.»

(dpa)