Ein Abend im Maracanã: Magie und ein unerwünschter Gast

Rio de Janeiro – Für den einen ist es der schönste Tag seines Lebens, für den anderen ein Debakel.

«Ohne Zweifel, heute habe ich die Goldmedaille erhalten», erzählt Vanderlei de Lima überwältigt, nachdem er das olympische Feuer in Rio de Janeiro entzündet hat. Für Michel Temer ist es dagegen kein Jubel-Abend – er wird bei der Eröffnung blamiert.

Eine Bilanz des Abends im Maracanã:

SCHÖNHEIT: Hat Brasilien reichlich. Wer wenn nicht Topmodel Gisele Bündchen darf das repräsentieren. Sie schlägt eine schöne Brücke der Generationen zur Musik. Die 36-Jährige stolziert ganz allein durch das Maracanã, zu den Klängen des Bossa-Nova-Kassikers «The Girl from Ipanema», in einem Glitzerkleid, an dem der brasilianische Designer Alexandre Herchcovitch vier Monate lang gearbeitet hat. Am Ende sieht es so aus, als nehme Bündchen bei ihrem Gang durchs Stadion genau den Laufweg wie André Schürrle 2014 im WM-Finale gegen Argentinien, bevor er in der 113. Minute auf Mario Götze flankte. 

PFEIFKONZERT: Um 23.26 Uhr hat Michel Temer seinen großen Auftritt. Er soll laut Programm nur 40 Sekunden dauern. Brasiliens Interimspräsident muss sagen: «Ich erkläre die Spiele von Rio de Janeiro zur Feier der XXXI. Olympiade für eröffnet». Aber seine Worte gehen in einem ohrenbetäubenden Pfeifkonzert im Maracanã unter, man hört nicht, was er sagt, dann wird sofort laute Musik aufgedreht, um die Peinlichkeit zu überspielen.

PROGRAMMÄNDERUNG: Zu Beginn wird Temer – anders als im Programm angekündigt – gar nicht erst begrüßt. Sondern nur IOC-Präsident Thomas Bach, der aufsteht und winkt, Temer daneben muss sitzen bleiben. Und als Bach seine Ansprache hält, begrüßt auch er Temer nicht. Beides ein Affront. Aber die Eröffnung konnte schlecht ein anderer übernehmen. So schwappt die politische Spaltung des Landes auch mitten in die schöne Sause hinein. Temer hatte sich mit der Opposition verbündet, um die Mehrheiten für den Sturz von Präsidentin Dilma Rousseff zu organisieren. Bei Neuwahlen hätte er keine Chance, er gilt vielen als Wendehals, Korruptionsvorwürfe tun ihr übriges. Rousseff nennt ihn einen «Verräter und Usurpator». 

FLUGZEUG: Brasilien ist ein Pionier der Luftfahrt, Embraer ist zum Beispiel der viertgrößte Flugzeugbauer. Durch das Stadion schwebt an Seilen plötzlich eine Replik der Santos-Dumont 14-bis, ein vom Pionier Alberto Santos Dumont entworfener Flieger. Der Jungfernflug 1906 gilt für viele – vor allem für die Brasilianer – als der erste der Welt.

GUT GEÖLT: Als Tongas Fahnenträger Pita Nikolas Taufatofua in das Stadion einmarschiert, kreischen viele Frauen auf den Rängen. Ein muskulöser Body, komplett geölt. Der Taekwondo-Kämpfer von der Südseeinsel hat nur einen traditionellen Rock an. In Brasilien, dem Land des Körperkults, wird er gefeiert.

GÄNSEHAUT: Riesigen Jubel gibt es am Ende des Einlaufs der Mannschaften (die Russen werden trotz Dopingskandal freundlich empfangen), als erst das kleine Flüchtlingsteam unter der Olympischen Flagge das Stadion betritt und dann die 465 Sportler Brasiliens. Sie laufen zu den Klängen des Sambaklassikers von 1939, Aquarela do Brasil, ein. Als die Musik vom Band verstummt, singen die Menschen minutenlang weiter – ein Gänsehaut-Moment.

GRÜN: Dominierende Farbe des Abends. Brasilien, dessen Name sich vom Brasilholz ableitet, setzt auf Natur, Vielfalt, nirgendwo so sichtbar wie im Amazonasgebiet. Wie Adern durchzieht ein grünes Lichtermeer zu Beginn die Arena, es wird an das unberührte Land erinnert, Schiffe tauchen auf, erinnern an die Ankunft der Portugiesen, die dann Sklaven aus Westafrika holten. Mit Videotechnik wird das Entstehen der Megastädte dargestellt. Man bemüht sich sehr, sich als nachhaltig zu präsentieren, ruft zur Rettung des Planeten auf. Die olympischen Ringe werden zu grünen Pflanzenringen. Vor jedem einmarschierenden Land fährt ein buntes, mit Blumen verziertes Fahrrad, das das Land ankündigt, ein Kind trägt vorneweg eine grüne Pflanze. Jeder Sportler bekommt einen Samen, damit sollen 11 000 Bäume in einem Park im Stadtteil Deodoro in der Nähe des Reitstadions gepflanzt werden.

BOTSCHAFT: Es gibt nach Auftritten von Brasiliens besten Musikern, 1500 Tänzern, der Inszenierung des bunten, lebendigen, kreativen Lebens in den Favelas plötzlich den Teil «Nach der Party». Es wird ruhig, Stimmen sind zu hören, «Grönland verschwindet». Es geht um die Folgen der rasanten Erderwärmung. Brasilien inszeniert sich als Kämpfer gegen den Klimawandel, Schützer der Kulturen und Vielfalt.

WIDERSPRUCH: Überall zu finden in diesem so wundervollen Land – es passt ins Bild, dass dies ungewollt auch bei der Eröffnungsfeier sich nicht übertünchen lässt. Dieses Jahr sind schon 33 Indigenas getötet worden im Kampf gegen weitere Regenwaldabholzung und Vertreibung. In Rio ist es mit dem Thema Umweltschutz nicht weit her. Doch die Hoffnung ist, dass diese Spiele vielleicht wirklich auch Veränderungen anstoßen.

MIT WENIG VIEL: Mit rund 20 Millionen US-Dollar soll nur etwa die Hälfte des Budgets der London-Eröffnung 2012 zur Verfügung gestanden haben. Unter der künstlerischen Leitung des Regisseurs des Favela-Dramas «City of God», Fernando Meirelles, wird all die Vielfalt Brasiliens in Szene gesetzt. Mit Leichtigkeit wird gezeigt, was Brasilien, dieses faszierende Land, wirklich ausmacht.

BRASILIENS BESTE: Von Anfang an wippen die Gäste im Takt, manche tanzen, fast alle summen die Gassenhauer der populären brasilianischen Musik: Samba, Bossa, deren Einflüsse in der modernen Popmusik weiterleben. Das verzückte Publikum ist gefangen von diesen Melodien und Rhythmen, die die Welt erobert haben. Gilberto Gil ist dabei, Chico Buarque, Caetano Veloso.

EMOTION: Dafür sorgt der Chef des Organisationskomitees und des Nationalen Olympischen Komitees Brasiliens, Carlos Arthur Nuzman. Er zittert bei seiner Ansprache, ruft aufgeregt: «Der beste Platz ist jetzt hier.» Riesiger Jubel im Rund. «Wir empfangen die Welt mit offenen Armen. Wir haben nie aufgegeben.» Seine voller Inbrunst vorgetragene Rede wird ständig von Beifall unterbrochen und bejubelt. Er trifft offensichtlich den richtigen Ton, macht Mut, sagt Worte, die seine verunsicherten Landsleute hören wollen.

REAKTIONEN: Überwiegend positiv. «Es war gleich am Anfang eine kategorische Erklärung, dass bei der Eröffnungsfeier der Spiele in Rio das brasilianische Volk, seine Werke, seine revolutionäre Musik und seine Kunst den Ton angeben würden – und nicht die politische Macht, die so umstritten ist wie Brasiliens Interimspräsident Michel Temer», schreibt El País aus Spanien. «La Vanguardia meint: «Eine Show mit weniger Pomp und Schwülstigkeit als diejenigen von Peking und London. Dafür aber mit viel Gambiarra, wie man in Brasilien die Fähigkeit zur Improvisation nennt.»


(dpa)

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