Übergriffe in der häuslichen Pflege verhindern

Karlsruhe – Ein Hilfenetzwerk bittet die Polizei um dringenden Hausbesuch wegen Verdachts auf Misshandlung. Eine Tagespflege erzählt von handtellergroßen Hämatomen an Hüfte und Gesäß einer Demenzkranken.

Die Polizei berichtet, dass eine pflegebedürftige Frau von ihrem Ehemann aus dem Auto gezogen und mit der Faust ins Gesicht geschlagen wurde. Ein Mann ruft die Polizei an, weil er eingesperrt wurde. Bei all diesen Vorfällen geht es um Gewaltsituationen in der Pflege. Und zwar zu Hause.

Die Fallbeispiele stammen aus dem Landkreis Tuttlingen nordwestlich vom Bodensee, wo sich derzeit das nach eigenen Angaben bundesweit einmalige Projekt «Erwachsenenschutz» dem Umgang mit, wie es Projektleiter Wolfgang Hauser formuliert, «problematischen Pflegearrangements» widmet. Und das aus gutem Grund: «Am Pflegestützpunkt des Landkreises häuften sich die Hinweise auf Gefährdungssituationen», sagt Hauser, der als Sozialplaner im Landratsamt arbeitet.

Mangelhafte Strukturen

Nachbarn, Polizei, ambulante Pflegedienste, auch Bürgermeister und sogar Pflegebedürftige selbst hätten immer öfter berichtet: «Da läuft was nicht gut. Da werden Menschen nicht gut versorgt. Da vermüllt jemand.» Im Landkreis habe man realisiert, dass zwar jeder alte Mensch möglichst lange zu Hause bleiben will. Aber die Strukturen dafür sind mangelhaft, fehlen oft ganz.

Das will das Projekt ändern, vom Sozialministerium wird es über drei Jahre mit 110.000 Euro gefördert. Das besondere Abhängigkeitsverhältnis der Pflegebedürftigen im Wohnumfeld mit oft eingeschränkter sozialer Kontrolle bringe die Betroffenen häufig in ein Dilemma, sagt eine Ministeriumssprecherin. Das Projekt solle eine «Sorgekultur im Zusammenwirken von Familien, sozialen Nachbarschaften, Freiwilligen sowie Professionellen» schaffen.

Besonders Menschen mit Demenz sind laut dem
Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP) gefährdet, Opfer von Gewalt in der Pflege zu werden. Anschreien, demütigen, bevormunden, zu lange auf dem Klo sitzen lassen, zu lange warten lassen, nicht ernst nehmen – die Gewalt gegen Pflegebedürftige, ob in einer Einrichtung oder zu Hause, ist vielfältig, schwer zu fassen und fängt lange vor strafrechtlich relevanten Übergriffen an.

Portal für Gewaltprävention

Dass das Thema viele bewegt, zeige auch das Interesse am ZQP-Portal www.pflege-gewalt.de, das den Angaben zufolge vor allem von pflegenden Angehörigen genutzt wird. «Wir haben dort im Jahr 2018 bisher über 50.000 Besucher gehabt», sagt der ZQP-Vorstandsvorsitzende Ralf Suhr.

Das ZQP hatte schon 2017 eine Studie zur Gewalt in Pflegeeinrichtungen veröffentlicht und 2018 mit einer Studie zum Thema Gewalt in der häuslichen Pfege nachgelegt. Demnach haben viele pflegende Angehörige mit negativen Gefühlen zu kämpfen, fühlen sich etwa niedergeschlagen (36 Prozent) oder verärgert (29 Prozent).

Fast jeder Dritte (rund 32 Prozent) der gut 1000 Befragten gab an, in den vergangen sechs Monaten gegen die pflegebedürftige Person psychisch gewalttätig gewesen zu sein. Von körperlicher Gewalt berichteten 12 Prozent. «Vieles bleibt im Dunkeln. Keine Statistik kann das erfassen», sagt Eugen Brysch, Vorstand der Stiftung Patientenschutz. Hinzu kommt auch die schnell übersehene, nach ZQP-Angaben kaum erforschte Aggression Pflegebedürftiger gegen die, von denen sie gepflegt werden.

Dabei ist die Bereitschaft zu Familienpflege nach Ansicht von Experten hierzulande einzigartig. «Sogar in Italien wird weniger gepflegt, von Frankreich ganz zu schweigen», sagt Thomas Klie, der an der Evangelischen Hochschule in Freiburg lehrt und das Tuttlinger Projekt begleitet. «Da wird sehr viel geleistet – allerdings auf Kosten der Pflegeangehörigen.» Auch Klie spricht von einer nennenswerten Zahl von Haushalten, in denen man es mit Gewalthandlungen zu tun habe.

Überlastung von Angehörigen

Alleine aus Begutachtungen des
Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) habe sich ergeben, dass etwa 15 bis 20 Prozent der zu Hause versorgten Menschen mit Demenz fixiert, sediert und/oder eingesperrt werden, sagt Klie. Nach Hausers Worten ist oft die Überlastung von Angehörigen Grund für solche Handlungen. Sie würden im Stich gelassen und weder beraten noch begleitet. «Man erkauft sich die Familienpflege durch Weggucken, indem man sich mit der Lebenssituation der Menschen mit Pflegebedarf nicht in ausreichender Weise auseinandersetzt», sagt Klie.

Im Landkreis Tuttlingen soll nicht mehr weggeschaut werden. Mit Arbeitsgemeinschaften, runden Tischen, einer Taskforce und sogenannten Case-Management-Schulungen will das Pilotprojekt Strukturen erarbeiten, mit denen Gewaltsituationen schneller erkannt und verändert werden können. Das Projekt könne in die Breite wirken, hofft Klie – um eine bisher vernachlässigte Wirklichkeit in den Blick zu nehmen.

Das Tuttlinger Projekt «Erwachsenenschutz»

Das Projekt «Erwachsenenschutz im Landkreis Tuttlingen» will ein Konzept erarbeiten, das Angehörige und Pflegebedürftige in der belastenden Pflegesituation umfassend unterstützt. «Dass man was tun muss, ist allen klar, aber wer macht was und wie wird das abgestimmt?», sagt Wolfgang Hauser, der als Sozialplaner im Landratsamt Tuttlingen das Projekt mitbetreut. Vielfach würden bei Gefährdungssituationen die Erkenntnisse etwa der Polizei oder der ambulanten Pflegedienste nicht weitergeleitet, aneinander vorbeilaufen und so ein rechtzeitiges Eingreifen und wirkungsvolle Hilfe unmöglich.

Die Projektbeteiligten schrieben 90 Personen an, darunter Vertreter von Wohlfahrtsverbänden, Pflegekassen, Ordnungsämtern, Nachbarschaftshilfen sowie Krankenhäuser und Hausärzte. Ziel ist, die Zuständigkeiten besser zu bündeln und zu vernetzen und Abläufe zu vereinheitlichen.

Auch eine Art Taskforce soll gebildet werden, die bei kritischen Situationen eingreifen könnte. Schulungen zum Fallmanagement sind geplant sowie eine eigene Öffentlichkeitskampagne. Nach Angaben des Landratsamtes ist das auf drei Jahre angelegte Projekt bundesweit einmalig. Es startete im November vergangenen Jahres.


(dpa)

(dpa)