Pflegebedürftige sollen mit Videospielen fit bleiben

Kiel – Doris von Ditfurth bewegt im Tagessaal des Kieler Domicil-Pflegeheims Hände und – so gut es eben geht – auch die Füße. Während aus dem Lautsprecher Helene Fischers Schlager «Atemlos durch die Nacht» ertönt, versucht die 70-Jährige dem computeranimierten Vortänzer auf dem großen Bildschirm zu folgen.

Leicht ist das für sie nicht. Denn seit einem Schlaganfall sitzt sie im Rollstuhl, hat aber gleichwohl sichtlich Freude an der Aufgabe. «Man kommt richtig ins Schwitzen und es macht Spaß», sagt die Seniorin. «Tango hätte ich am liebsten, aber das gibt es hier nicht.»

Doris von Ditfurth nimmt an einem bundesweiten Pilotprojekt zur Förderung der geistigen Fähigkeiten und der Motorik von pflegebedürftigen alten Menschen teil, das Schleswig-Holsteins Gesundheitsminister Heiner Garg (FDP) als Schirmherr am Mittwoch in Kiel vorstellt. Dabei kann sie sich mit der Spielekonsole Memorebox verschiedene gesundheitsfördernde Videospiele auswählen. Möglich ist auch Motorradfahren oder Singen ähnlich wie Karaoke, dann wird der Text auf dem Bildschirm angezeigt.

Der sperrige Titel des von der Barmer Ersatzkasse geförderten Projekts lautet: «Digitale Prävention in Pflegeeinrichtungen durch therapeutisch-computerbasierte Trainingsprogramme.» Bundesweit werden in den nächsten Monaten 100 Pflegeeinrichtungen – darunter fünf aus Schleswig-Holstein – aufgefordert, sich an der zweiten Projektphase zu beteiligen. Vorangegangen war eine zweijährige erste Phase mit einigen Einrichtungen in Hamburg und Berlin. Die Humboldt Universität wird auch die zweite, bis 2020 dauernde Pilotphase wissenschaftlich begleiten.

Es ist die Erfolgsgeschichte des Hamburger Startups Retrobrain R&D, dessen Macher an der Humboldt Uni ihre Ideen entwickelten. Firmengründer Manouchehr Shamsrizi betont in Kiel, die Kernidee sei uralt. Bereits der Dichter Friedrich Schiller (1759-1805) habe gewusst: «Der Mensch ist nur Mensch, wo er spielt.» Und der amerikanische Arzt und Schriftsteller Oliver Wendell Holmes (1809-1894) habe die These vertreten, «man altert in dem Moment, wo man aufhört zu spielen». Shamsrizi setzt auf sinnvolles Spielen: Bereits acht Minuten pro Tag sich von links nach rechts mit dem Oberkörper zu bewegen reichten aus, um Stürzen vorzubeugen.

Ergebnisse der ersten Untersuchung: Die Stand – und Gangsicherheit wurden gestärkt, Motorik-, Ausdauer- und Koordinierungsfähigkeiten verbesserten sich und durch das gemeinsame Spielen wurden die sozialen Bindungen gestärkt, wie Bernd Hillebrandt, Landesgeschäftsführer der Barmer Ersatzkasse betont.

Die Memorebox lässt sich an jeden Fernseher anschließen, eine Kamera erfasst Bewegungen und Gesten. Die Spieler stehen oder sitzen vor dem Bildschirm, ihre Bewegungen werden auf dem Bildschirm umgesetzt. Ein Joystick oder ein Balance Board seien nicht notwendig.

Minister Garg, 52, probiert das Motorradfahren aus. Wenn er seinen Oberkörper bewegt, fährt das Motorrad entsprechend nach links oder rechts auf der digitalen Autobahn. «Achtung, es fahren nun auch Autos auf der Straße», warnt eine Computerstimme. Als Übung, um kognitives Wissen zu wecken und mit motorischem Verhalten zu verknüpfen, fragt der Computer den Spieler: «Wie hieß die frühere Hauptstadt der Bundesrepublik – und nehmen Sie die richtige Ausfahrt.» Garg fährt denn auch über Bonn zum Heidelberger Schloss als Ziel.

«Wie viel Digitales verträgt Soziales», fragt Garg. Manche meinten, mehr direktes Miteinander sei besser. «Aber vielleicht gelingt es, über Digitales zu mehr Miteinander zu kommen.» Sein Appell an alle Skeptiker: «Einfach ausprobieren!»

Im Saal des Pflegeheims sind die Meinungen an diesem Vormittag gemischt. Rosemarie (83) kann sich vorstellen, mal Motorradfahren zu spielen («ich habe aber keinen Führerschein»). Ingeborg (84) wehrt dagegen lachend, aber kategorisch ab: «Dann geht das Ding kaputt, bloß wenn es mich sieht – ich bin kein Spieltyp.»


(dpa)

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