Mit Kindern über Antisemitismus reden

Frankfurt/Main – Er existiert auf Schulhöfen, manchmal auch im Unterricht oder auf offener Straße: Judenhass. Es gibt ihn als Stichelei oder Beschimpfung, im schlimmsten Fall führt er zu körperlicher Gewalt. Wie können Eltern auf solche Vorfälle reagieren, wenn ihre Kinder davon erzählen?

Am besten widersprechen sie ihnen deutlich und beziehen Position, sagt Marina Chernivsky. Sie leitet das
Kompetenzzentrum «Prävention und Empowerment» der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland in Frankfurt und ist Mitglied im Expertenkreis Antisemitismus des Deutschen Bundestages.

Wenn «Jude» als Schimpfwort auf dem Schulhof verwendet wird: Wie gehen Eltern mit so etwas um, wenn sie mitkriegen, das ist gang und gäbe?

Marina Chernivsky: Jedes Schimpfwort ist ein Angriff auf die Würde. Der Gebrauch von «Jude» als Schimpfwort ist ein Angriff auf die Integrität jüdischer Kinder. Sie bekommen dadurch die Botschaft, nicht so sein zu dürfen, wie sie sind.

Jede Beschimpfung braucht eine Reaktion von Erwachsenen, nicht dass am Ende bei Kindern hängenbleibt, dass manche Schimpfwörter weniger schlimm sind als andere. Wichtig ist, dass Eltern und Lehrer dieser Wortgewalt widersprechen und betroffene Kinder stärken. Eltern sollten laut Kritik üben und sich an die Schule wenden, Allianzen bilden mit Lehrern, der Schulleitung. Man muss Kindern zeigen, dass man nicht hilflos ist. Geduldete Diskriminierungen schaffen ein raues Klima und ebnen den Weg für noch schlimmere Vorfälle.

Im Expertenkreis Antisemitismus haben wir eine Studie dazu gemacht, welche antisemitischen Schimpfwörter in Schulen und auf Schulhöfen kursieren. Dadurch konnten wir aus der Sicht der Betroffenen Vorfälle kategorisieren. Viele haben einen NS- und Schoah-Bezug. Das fängt an bei Äußerungen wie «Du Opfer, du Jude» über Täter-Opfer-Umkehr wie «Hitler war ein guter Mann», «Schade, dass er nicht alle vergast hat» bis hin zu aktuellen judenfeindlichen Feindbildern und Verschwörungsideologien im Kontext vom Nahostkonflikt. Im Hass auf Juden finden leider viele eine gemeinsame Sprache.

Das Kind schnappt ein Ereignis auf, zum Beispiel die Prügelattacke auf den Kippa tragenden Israeli in Berlin: Wie rede ich mit meinem Kind über so etwas?

Chernivsky: Indem Eltern offen darüber sprechen und zeigen, was das mit ihnen selbst macht – aber auch, was sie vielleicht nicht wissen. Wir können mit Kindern über Macht sprechen, über Identität, über Wirkung von Ausgrenzung und Diskriminierung. Auf keinen Fall darf so eine Tat als Befindlichkeit einer bestimmten Person abgestempelt werden. Es muss klar werden, was solche Taten auslösen und wie sie wirken. Was aber nicht funktioniert, ist, wenn Eltern Empathie verordnen. Das klappt am besten über den Bezug zu sich selbst und der eigenen Lebenswelt.

Wie schaffe ich bei meinem Kind ein historisches Bewusstsein dafür, was die Schoah ist?

Chernivsky: Es gibt viele Möglichkeiten, vor allem über ein offenes Sprechen über die Geschichte der eigenen Familie, auch wenn diese unter Umständen unliebsam ist. Es funktioniert auch über kindergerechte Bücher, Filme, Gedenkstättenbesuche. Es ist wichtig, Jugendlichen begreifbar zu machen, was passiert ist. Eine solche Annäherung sollte aber behutsam und schrittweise erfolgen.

Das historische Bewusstsein ist wichtig, aber es immunisiert nicht automatisch gegen Antisemitismus oder Abwertung von Gruppen heute. Und es darf nicht dazu führen, dass Jugendliche Jüdinnen und Juden ausschließlich in der Vergangenheit wahrnehmen, nach dem Motto «Juden sind oftmals nur historisch relevant, nicht als Teil unserer Gesellschaft heute». Hier landen wir unausweichlich bei der Beziehungsgeschichte zwischen nicht-jüdischen und jüdischen Deutschen, und diese ist aktuell mehr als relevant. Man kann sich dem Thema nicht nur über die Gedenkstättenbesuche nähern.

Ein Zugang ist die Arbeit mit der eigenen Biografie: Also sich zu fragen, wie reagieren wir auf diese Geschichte? Was kommen bei aktuellen Debatten für Emotionen hoch? Dafür muss man nicht die Black Box der eigenen Familie öffnen und darlegen, was der Großvater vielleicht alles gemacht oder nicht gemacht hat. Es reicht, wenn wir unsere Positionen heute hinterfragen und uns unsere ganz eigenen Bezüge zu diesem Erbe vor Augen führen.

Und es ist wichtig, sich bewusst darüber zu werden, dass es keine schnellen Lösungen gibt oder einen sicheren Weg, um sein Kind gegenüber Antisemitismus zu impfen. Die Komplexität dieses ganzen Themas zuzulassen, ist schon ein wichtiger Schritt.


(dpa/tmn)

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